WAS DIE SUCHTERKRANKUNG VON ELTERN FüR IHRE KINDER BEDEUTET

"Das Aufwachsen in einer suchtbelasteten Familie kann sehr, sehr traurig machen", sagt Katharina Spatola. Sie arbeitet bei Nacoa Deutschland, ein Verein, der sich deutschlandweit für Kinder aus ebensolchen Familien einsetzt. Sie fährt fort:

"Wenn man ein kleines Kind ist, das eigentlich Schutz braucht, weil diese Welt so verunsichernd ist, und der Mensch, der eigentlich Zuhause sein sollte, diesen Schutz nicht geben kann oder ihn selber braucht, verunsichert das. Es schafft ein Gefühl der Ohnmacht."

So zumindest könne es sich darstellen. Doch alle Kinder gingen anders mit der Sucht innerhalb ihrer Familie um, daher könne Katharina keine allgemeingültige Aussage treffen.

Etwa jedes fünfte Kind wächst mit suchtkranken Eltern(teil) auf

Ungefähr drei Millionen Kinder in Deutschland wachsen in einer suchtbelasteten Familie auf. Die Dunkelziffer ist hoch, weshalb der Verein Nacoa davon ausgeht, dass es sich um jedes fünfte Kind handeln dürfte. Eine Zahl, die an die Armutsstatistik erinnert – der Zusammenhang ist allerdings nicht zwingend gegeben. Suchterkrankungen gibt es in jedem Milieu. Und so sind Akademiker:innen-Kinder ebenso betroffen, wie Kinder aus Bürgergeld-Familien.

"Wobei es natürlich vorkommen kann, dass Familien auch durch die Sucht – zum Beispiel Glücksspielsucht – in Armut rutschen", stellt Mia Marianne Drost klar. Mia arbeitet wie Katharina bei Nacoa. Sie beide leiten den Berliner Fluffi-Klub.

Dabei gehen sie in Kindergärten und arbeiten mit Fünfjährigen. Das Ziel: Resilienztraining mit den Kleinsten. Ob und wenn ja, wie massiv ein Kind in diesen Gruppen vom Thema Sucht oder auch Gewalt betroffen ist, wissen sie vorher nicht. Nicht selten kommt es aber vor, dass während der Workshops, die über das gesamte Kita-Jahr verteilt stattfinden, Probleme aufbrechen.

So berichtet Katharina zum Beispiel von einem Jungen, dem während eines Workshops aufgefallen ist, dass sein Papa vielleicht gar nicht seine Vertrauensperson ist. Dort hätten die Kinder gelernt, was ein:e solche:r Ansprechpartner:in haben müsse. Dass man ihr alles sagen könne, ohne Angst haben zu müssen. Dass sie einem niemals wehtun würde.

"Er hat dann immer wieder Situationen geschildert und sich bei den anderen Kindern rückversichert, ob sein Papa diese Vertrauensperson ist", schildert Katharina. Als es dann um gute und schlechte Geheimnisse gegangen sei, habe der Junge gesagt: "Ich kann meinem Papa gar nicht vertrauen."Solche Situationen müssten dann aufgefangen werden, von der Gruppe, dem Fluffi-Klub und der Kita.

Und wie gehen die anderen Kinder damit um? Die hätten laut Katharina ein enormes Gerechtigkeitsgefühl. Sie fühlen mit und stützen die Menschen, die gerade realisieren, dass irgendetwas zu Hause so gar nicht stimmt. Ploppt so ein Fall auf, bedeutet das, die Kita muss mit den Eltern sprechen. Es muss geprüft werden, ob das Kindeswohl gefährdet ist, welche nächsten Schritte eingeleitet werden müssen.

Laut Katharina und Mia funktionieren die Haltelinien. Ihnen gibt das Sicherheit, da dadurch fachlich betrachtet alles geklärt ist. Die ergriffenen Schritte folgen einem Protokoll. Katharina hat früher in einer Einrichtung gearbeitet, in der Kinder nach einer Inobhutnahme untergebracht wurden. Auch dort hat sie bereits erlebt, was Sucht für Kinder bedeuten kann – und wie groß das Potenzial ist, dass der Nachwuchs mit hineingezogen wird, in die Abwärtsspirale.

Sie erinnert sich an einen Jungen, den sie über mehrere Jahre begleitet hat – und der immer wieder zurückgegangen ist zu seinem Vater. Irgendwann hätten Vater und Sohn gemeinsam gekifft und getrunken. So habe der Junge eine Verbindung gespürt und dem ganzen System, das seinen Papa kritisiert hat, sehr deutlich gezeigt, was er davon hält.

Kinder, in deren Familien es bereits eine an Sucht erkrankte Person gibt, haben laut den Expertinnen ein hohes Risiko, selbst an Sucht zu erkranken. Etwa ein Drittel der Kinder aus suchtbelasteten Familien entwickeln später eine Abhängigkeit. Eine Risikogruppe also, und doch ist Unterstützung schwierig.

Denn, wie viele soziale Angebote, ist auch Nacoa Deutschland Projekt-finanziert. Das heißt: Jährlich Anträge schreiben und hoffen, dass die Förderung weitergeht. Für Mia und Katharina bedeutet das, dass sie immer in befristeten Verträgen arbeiten – die Sorge, dem Projekt könnte das Geld abgedreht werden, ist präsent.

Ein weiteres Problem: Der Fluffi-Klub ist zwar ans Kita-Jahr angelehnt, die Projektförderung aber ans Kalenderjahr. Das heißt, wenn es hart auf hart kommt, könnte das Resilienztraining mitten im Programm wegfallen.

Auch deshalb werben Mia, Katharina und die anderen Nacoas öffentlich für ihre Einrichtung. Gehen Klinkenputzen beim Senat oder Vertreter:innen des Bundes. Mit dem Drogenbeauftragten Burkhard Blienert (SPD) haben sie mittlerweile einen starken Partner an ihrer Seite.Auch er will Prävention und Gesundheitsschutz stärken, Suchterkrankungen aus der Schmuddelecke holen, helfen.

Denn noch immer wird mit Sucht menschliches Versagen verbunden. Ein Stigma. Und das, obwohl es sich dabei um eine psychische Erkrankung handelt. "Suchtkranke Menschen sind keine schlechten Eltern", stellt Katharina klar. Es helfe niemandem, wenn Personen von außen dem Kind erklärten, wie furchtbar das Elternhaus sei. Die meisten wollten, dass es ihren Kindern besser geht, als ihnen selbst. "Aber der Suchtdruck ist oft stärker und schiebt sich dann vor die Bedürfnisse des Kindes", fährt die Traumapädagogin fort.

Was es braucht: Umgang auf Augenhöhe. Anders würden auch die Kinder verprellt. "Kinder haben immer das Gefühl, für ihre Eltern verantwortlich zu sein, auf sie aufpassen zu müssen", sagt Mia. Wichtiger als die Eltern vor dem Kind schlecht zu machen, sei es deshalb, dem Kind einen Raum zu eröffnen, in dem Gefühle in Ordnung sind. In dem es Kind sein kann.

Das ist auch die Idee des Fluffi-Klubs. Dort wollen Katharina und Mia den Kindern mit der Handpuppe Fluffi, die selbst aus einer Suchtfamilie stammt, näher bringen, dass es okay ist, Gefühle zu haben. Die Kinder sollen dort lernen: Alle Gefühle haben ihre Berechtigung, sowohl Freude als auch Trauer und Wut. Was Kinder dort auch lernen: Strategien, wie sie mit ihren Gefühlen umgehen können.

Denn bei Sucht, egal in welcher Form, handelt es sich auch um Coping-Mechanismen. Sei es die Tafel Schokolade gegen den Kummer, Frust-Shoppen, Sport als Ersatztherapie oder eben Substanzen wie Alkohol oder Kokain, zur Stressbewältigung. Zum Betäuben.

Mia hofft, dass sich der Blick auch auf die Volksdroge Alkohol durch die intensive Debatte im Zuge der Cannabis-Freigabe ändert. Verbot, stellt sie klar, bringt nichts. Denn konsumiert werde ohnehin. Mit Blick auf die Debatten über Cannabis sei aber aufgefallen, dass es in der Bevölkerung ein Bedürfnis nach Prävention und Jugendschutz gibt. Dass es einen politischen Willen gibt, diesen Schutz nach vorne zu stellen. Sie hätte sich gewünscht, die Freigabe gelte erst für Menschen ab 21 Jahren, weil sich das Hirn bis dahin entwickelt.

Dennoch, es sei ein guter Schritt, der nun auf Alkohol übertragen werden müsse. Überall ist das Suchtmittel präsent, Jugendliche dürfen in Begleitung ab 14 Jahren Bier und Wein trinken, ab 16 Jahren sogar ohne Eltern.

Neben der Stigmatisierung sei es auch diese Verharmlosung, die Kinder gefährde. Und die es noch schwieriger mache, Eltern zu helfen. Deswegen brauche es noch mehr Angebote in der Jugendhilfe, in der Suchtberatung, in der Prävention. Dafür wollen Mia und Katharina weiter werben.

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